Traumpfad



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Freitag, 5. August.   Tag 0, Abreisetag.






Tick, tack, tick, tack. Mühsam vergeht Sekunde für Sekunde die Zeit. Noch zehn Minuten, dann ist es sechs Uhr, Zeit zum Aufstehen. Seit geraumer Zeit liege ich schon wach. Heute ist es soweit, heute geht es los. Endlich. Die letzten Tage waren schon kaum auszuhalten. Nur noch wenige Stunden bis heute Abend, bis wir endlich im Zug sitzen. Davor muss ich aber erst noch einmal zur Arbeit. Das Fass Veltins wartet schon an der Tür, für so eine Reise muss man sich halt zünftig verabschieden. Zum Glück ist es heute ein entspannter Tag und er vergeht schnell. Meist herrscht eh nur ein Thema: das unserer Reise. Der Abschied auf der Arbeit ist sehr rührend, alle wünschen mir viel Glück bei unserem Vorhaben. Die fünf Liter Bier sind schneller leer, als ich dachte. Auch wenn die Rucksäcke seit Tagen schon bereit stehen, packen wir sie mit Ywi, als ich am frühen Nachmittag nachhause komme, noch einmal ein und aus. Nur zur Sicherheit, nicht dass wir etwas vergessen. Danach gibt es nichts mehr zu tun. Wir haben achtzehn Uhr. Der Zug fährt erst in drei Stunden. Trotzdem schnüren wir unsere schweren Bergstiefel, mit denen wir neben der vollen Rucksäcke kurze Zeit später die Blicke der Leute unterwegs auf uns ziehen werden, und marschieren an der Haustür los. Ja, so haben wir uns das vorgestellt, keiner bringt uns zum Bahnhof, wir laufen. Wie jeden einzelnen Tag in den nächsten vier Wochen. Die Zeit zuhause war schwer auszuhalten, am Bahnhof ist es aber nicht besser, auch hier will sie nicht vergehen. Anders aber in einem Café um die Ecke, wo wir beim Weißbier, quasi als Vorbereitung auf die nächsten Tage, die letzte Stunde bis zur Abfahrt verbringen. Als kurze Zeit später der Zug den Duisburger Hauptbahnhof verlässt, wird uns langsam bewusst, jetzt geht es wirklich los. Auch wenn wir noch lange Zeit vor lauter Aufregung nicht einschlafen können. Was erwartet uns in den nächsten Tagen? Was werden wir erleben? Werden wir jemals in Venedig ankommen? Machen es unsere Füße mit? Die monotonen Zuggeräusche wirken aber irgendwann wie ein Schlaflied und den sanften Übergang von den Gedanken in die Träume bekommen wir erst gar nicht mehr mit. 





Samstag, 6. August.   Tag 1.

1
Als wir wach werden, realisieren wir erst gar nicht, dass wir in einem Zug sind. Alles ist still, wir fahren gar nicht. Ein Personenschaden auf den Gleisen lässt uns gute zwei Stunden in der Wildnis stehen, zum Glück verschliefen wir die meiste Zeit. So kommen wir mit erheblicher Verspätung am Münchener Hauptbahnhof an, wo wir erst um zehn Uhr loslaufen können. Schon auf dem Weg zum Marienplatz sehen wir einige Leute mit Rucksäcken, bei denen wir uns fragen, ob sie auch nach Venedig wollen? Wir kommen uns albern vor, es kann eigentlich nicht sein. Ist es aber nicht. Nach dem obligatorischen Foto am Startpunkt unserer Wanderung, dem Marienplatz, kurz nachdem wir das Deutsche Museum passierten und gerade die ersten Meter entlang der Isar laufen, spricht uns tatsächlich jemand an und fragt, ob wir auch „Venediggeher“ wären? Fünfhundertfünzig Kilometer vor Venedig! Wir sind schon verblüfft. Dieser jemand stellt sich als Rüdiger aus Esslingen bei Stuttgart vor. Wie es sich später zeigen sollte, liefen wir weite Teile der Alpenüberquerung mit ihm gemeinsam. Noch mehr staunen wir, als wir an dem ersten Wegweiser Richtung Venedig1 vorbei laufen. Sofort machen wir Bilder davon. Es ist Wahnsinn, es ist noch so ein weiter Weg! Noch ahnen wir nicht, dass solche Schilder uns auf der gesamten Strecke begleiten werden, bis nach Venedig. Auch wenn München eine sehr schöne Stadt ist, so sind wir froh, diese mit ihrer Hektik hinter uns zu lassen. Es sind zwar immer noch recht viele Menschen unterwegs, aber es ist schon deutlich ruhiger entlang der Isar, wenn auch nicht für lange, wie es sich kurze Zeit später zeigen sollte. Wir werden jetzt immer gegrüßt, oft fragen uns die Leute, wo wir hinwollen. Jeder wünscht uns viel Glück auf dem Weg. Wir lernen noch weitere „Venediggeher“ kennen, unter anderem auch Matthias aus der Lüneburger Heide, der während der ersten zwei Etappen von einer Freundin, Barbara aus Franken, begleitet wird. Während wir die ganze Zeit entlang der Isar laufen, wundern wir uns schon sehr, wie viel Wasser sie führt. In Erinnerung haben wir sie eher als einen gemütlich vor sich hin fließenden Fluss, heute aber ist sie sehr wild und gefährlich. Es ist ein faszinierendes Schauspiel. Es gibt einige Waghalsige, die sich trauen, mit ihren Schlauchboten die Isar runter zu fahren. Plötzlich werden wir aus unseren Gedanken gerissen, als aus dem Waldstück, das zwischen dem Ufer und unserem Weg liegt, ein halbnackter, verletzter junger Mann, der auch noch sichtlich unter Schock steht, uns vor die Füße läuft. Sofort setzten wir einen Notruf ab und obwohl wir auch genaue Geodaten nennen, dauert es noch richtig lange, bis uns eine Polizeistreife auffindet. Inzwischen erzählt uns der Verletzte von dem Kentern des Bootes und dass er noch drei weitere seiner Kameraden vermisst, er befürchtet Schlimmes. Seine Erleichterung ist aber groß, als kurze Zeit später Rufe aus dem Wald zu vernehmen sind, denen auch prompt zwar ein ebenfalls fast nackter, aber immerhin wohlerhaltener zweiter junger Mann folgt. Er berichtet auch von den anderen zwei Freunden, die sich ebenfalls retten konnten, das entspannt die Situation sichtlich. Irgendwann laufen wir weiter. Offensichtlich sind es aber nicht die 2einzigen Opfer des heutigen Tages, ständig kreist ein Hubschrauber über uns, immer wieder hören wir das Martinshorn in der Ferne. Als wir kurze Zeit später über eine Brücke die Isar überqueren wollen, sehen wir zig Rettungskräfte, Notärzte, Wasserrettung, Feuerwehr und Polizei. Von denen erfahren wir, dass etliche Leute heute gekentert sind und es eine groß angelegte Rettungsaktion gibt. Bis zu unserem Ziel in Wolfratshausen, der Pension Rosengarten, stehen wir unter dem Eindruck des Erlebten. Den Abend verbringen wir gemeinsam mit Rüdiger, Matthias und Barbara, die genau wie wir, aber völlig unabhängig voneinander in der gleichen Pension untergekommen sind. Wir haben den ersten Wandertag hinter uns, knapp vierzig Kilometer in den Beinen, sind zwar müde, aber sehr zufrieden. Die einzigen Blessuren sind die Druckstellen an den Hüftbecken als Folge der ungewohnt schweren Rucksäcke. Einzig Matthias lief sich einige Blasen an den Füßen.





Sonntag, 7. August.   Tag 2.

5Wir werden wach und freuen uns über eine erholsame Nacht. Das Frühstück ist vorzüglich. Ein anderer Gast, ein ehemaliger Soldat aus Österreich, erzählt einiges von sich, unter anderem auch, dass er für die Stecke nach Venedig nur zwei Wochen brauchen würde. Wir sind beeindruckt. Wir laufen los, die Sonne scheint, es geht uns allen prima. Ehe wir Wolfratshausen verlassen, gibt es eine große Überraschung. Am Wegesrand steht Ludwig Grassler, grüßt unsol herzlich und wünscht uns viel Glück auf unserem Weg. Da wir ihn letztes Jahr schon kennen lernen durften, erkennen wir ihn sofort, den anderen ist er unbekannt. Wir unterhalten uns, zum Abschied singt er uns das München-Venedig-Lied, sogar in voller Länge. Wir alle sind völlig überwältigt von seiner äußerst positiven Ausstrahlung. Danach laufen wir ganz entspannt die ganze Zeit entlang der Isar. An einem wunderschönen Ort, der Malerblick genannt wird, machen wir unsere erste Rast und genießen die schöne Aussicht auf die Wendungen der Isar. Hier begegnen wir zum ersten Mal dem lustigen Paar Hans-Dieter und Katrin aus Bamberg. Obwohl sie ein Paar sind, laufen sie  nach verschiedenen Wanderführern, so nehmen sie schon mal völlig unterschiedliche Wege, irgendwie crazy. Als der Traumpfad irgendwann die Isar verlassen will, um uns über einige Straßen nach Bad Tölz zu führen, beschließen wir aber dem Fluss treu zu bleiben. An einigen Stellen reicht das Wasser zwar bis an den Weg entlang des Ufers, diese lassen sich aber ohne Probleme 1umgehen. Unterwegs finden wir sogar einen Strand. Wir lassen es uns nicht nehmen und machen hier eine weitere ausgiebige Pause. Es ist zwar nur ein Kieselstrand, trotzdem ziehen wir uns aus und legen uns in die Sonne. Es gab schon mal schlechtere Tage in unserem Leben. Es ist herrlich. Einzig Matthias Füße machen uns Sorgen, wirklich gut sehen sie nicht aus. Die heutige Etappe gleicht eher einem ausgiebigen Spaziergang, als einer Wanderung, ganz entspannt erreichen wir Bad Tölz, wo wir im Gästehaus Rosl unterkommen. Hier gibt es für ganz kleines Geld eiskaltes Bier aus der Flasche, so fällt der Abschied von Barbara, die heute Abend nachhause fährt, sehr fröhlich aus. Abends laufen wir zu dem naheliegenden Brauhaus Binder, wo es neben dem leckeren Bier aus Tonkrügen eine der besten Brotzeiten meines Lebens gibt. Als bekennender und sehr erfahrener Brotzeitfan weiß ich, wovon ich rede! Leider kam nur noch Rüdiger mit, Matthias wollte seine Füße schonen. Wir ahnten schon Böses.




Montag, 8. August.   Tag 3.

Tatsächlich erfahren wir heute Morgen nach dem Aufstehen als Erstes, dass Matthias erst mal nicht weiter laufen kann, seine Füße brauchen eine Pause. Nach einem guten Frühstück gehen wir erst mal in die Stadt. Ywi braucht noch eine warme Unterhose, ich hole mir eine Reservetube Hirschtalg, nur für den Kopf... Danach geht es weiter immer noch entlang der Isar. Schon nach kurzer Zeit erblicken wir die Berge! Wir sehen den eBrauneck, den Latschenkopf und die Benediktenwand. Zuerst müssen wir aber noch gute zehn Kilometer im Flachen zurücklegen, immerhin mit dem ständigen Blick auf die Gipfel, die ganze Zeit an der Isar entlang. Als wir am Fuße des Braunecks ankommen, gibt es eine Überraschung. Matthias lieh sich einen Fahrrad und kam hierhin, um uns zu verabschieden. Wir kennen ihn erst seit zwei Tagen, aber selten ist uns jemand so ans Herz gewachsen! Wir müssen tatsächlich die Tränen unterdrücken. Der Abschied verläuft sehr emotional, selten tat mir jemand mehr leid als dieser nette Kerl. Genau wie wir, bereitete er sich lange Zeit auf diese Tour vor, freute sich riesig und schon jetzt, nach nur zwei Tagen, muss er abbrechen. Wir können uns sehr gut in ihn versetzen! Später erfuhren wir, dass er nach einigen Tagen Pause doch noch weiter laufen konnte. In sengender Hitze brauchen wir gute zwei Stunden bis wir am Gipfel des Braunecks ankommen. Schweißgebadet und außer Atem ahnen wir nach diesem doch relativ kurzen und nun wirklich nicht schweren Anstieg, wie anstrengend es noch in denö nächsten Wochen wird. Rüdiger, der zwar konditionell top ist, im alpinen, ausgesetzten Terrain aber noch recht unsicher ist, bittet uns, ihn auf den schwierigen Passagen zu begleiten. Als wir uns am Latschenkopf, dem höchsten Punkt der heutigen Etappe zu einer Rast niederlassen, fallen uns zwei komische Käuze auf, mit denen wir einige wenige Sätze tauschen, nicht ahnend, dass die beiden uns auf unserer weiteren Tour sehr ans Herz wachsen werden. Mit Dirk, dem Informatiker und erfahrenen Bergsteiger aus München und Wilhelm, dem evangelischen Pfarrer aus Schwarz in Mecklenburg, werden wir noch viele Kilometer gemeinsam laufen und so manchen Liter Rotwein vernichten. Der Ausblick vom Gipfel ist atemberaubend. Dank der guten Sicht5 können wir sogar den Hochfeiler deutlich sehen, dort wollen wir in einigen Tagen hinauf. Plötzlich wird uns glasklar, wir sind nicht mehr vor, sondern mitten drin in unserem Abenteuer. Kurz danach geht es über die Achselköpfe, wo wir zum ersten Mal auch unsere Hände beim Vorwärtskommen gebrauchen müssen, weiter zur Tuzinger Hütte. Die unterschiedliche Wahrnehmung der Schwierigkeit des Weges wird hier deutlich. Während wir irgendwann auf Rüdiger warten, um mit ihm die nun kommenden etwas schwierigeren Passagen gemeinsam zu gehen, teilt uns dieser bei seiner Ankunft nur kurze Zeit später mit, dass diese schon hinter uns liegen. Es war schon die erste große Herausforderung für ihn. Für den weiteren Verlauf müssen wir deutlich mehr Sensibilität entwickeln. Auf der Hütte angekommen sind wir etwas enttäuscht. Sie ist laut und überfüllt, diese typische abendliche Gemütlichkeit einer Berghütte ist hier leider nicht wahrzunehmen. Als Entschädigung bekommen wir in der direkten Nähe der Hütte einige Steinböcke zu sehen. Sie sind nicht ängstlich, offensichtlich sind sie an Menschen gewöhnt.




Dienstag, 9. August. Tag   4.1

Ein kurzes, aber heftiges Gewitter sorgt dafür, dass wir mit die Ersten beim Frühstück sind. Als der schlecht gelaunte Wirt ein junges Mädchen zusammenstaucht, weil es sich ein Brot für unterwegs schmieren wollte, kaufen wir für stolze acht Euro vier Käsebrote als Proviant. Wir laufen in einer Regenpause los, aber diese währt nicht lange. Es regnet ununterbrochen den ganzen Tag. Wir sind recht schnell unterwegs, es macht nicht wirklich Spaß. Als wir in Jachenau an einem kleinen Laden ankommen, schmerzen die acht Euro von heute Morgen sehr. Es ist uns eine Lektion, wir nehmen uns vor, den Wanderführer ab sofort mehr zu beachten, solche Sachen stehen da drin. Wir decken uns mit Proviant ein und laufen weiter. Leider birgt die Etappe bei diesem miesen Wetter wenig Schönes, die Ausnahme bildet da der Besuch der Lainer Alm. Wir laufen so mit gesenkten Köpfen durch den mittlerweile richtig starken Regen Meter für Meter stupide vor uns hin. In der dichten, grauen Suppe taucht irgendwann wie aus dem Nichts eine Alm vor uns auf und mitten darauf eine kleine Holzhütte mit einer Rauchschwade über dem Dach. Als wir auf diese zulaufen, kommt uns ein junges Mädel entgegen und bittet uns herein. Eigentlich wollen wir nur draußen unter dem Vordach Schutz vor dem Regen suchen und eine Brotzeit verzehren, die mollige Wärme aus dem Inneren der Hütte aber lockt uns hinein. Wir sind die einzigen Gäste, die Gaststube ist vielleicht fünf mal fünf Meter, einen beträchtlichen Teil dieser nimmt ein alter Herd ein, der wunderbare Hitze ausstrahlt. Die junge, äußerst liebenswerte Wirtin muss schmunzeln1, als sie die Geschichte von den Acht-Euro-Broten hört, und erlaubt uns, diese bei ihr zu verspeisen. Dazu tischt sie eine phantastische, frische Buttermilch auf, wir fühlen uns hier richtig wohl. Der Aufenthalt hier wertet den sonst recht trostlosen Tag um einiges auf. Rüdiger bekam in Vorderriß keine Übernachtung mehr, so muss er bei diesem Sauwetter weiter nach Hinterriß laufen, wir sind froh, in dem Notlager des Gasthofs Post bleiben zu können. Die Gaststätte hat heute einen Ruhetag, wir verbringen den ganzen Abend in dem kleinen Lagerraum auf unseren Liegen mit zehn weiteren durchnässten und durchgefrorenen Wanderern und erwärmen uns einzig an den alten Geschichten, die lange bis in die Nacht erzählt werden. Die Atmosphäre hat etwas von einem Lagerfeuer, nur der Sauerstoffgehalt in der Luft ist deutlich geringer.




Mittwoch, 10. August. Tag   5.

s Noch bevor wir die Augen aufbekommen, hören wir den Regen. Mist. Wir lassen uns viel Zeit beim Frühstück und beschließen, den Anfang der heutigen Etappe, der sowieso nur über eine Landstraße verläuft, mit dem Bus zu fahren. Es fährt nur ein einziger Bus am Tag, so fahren wir mit allen anderen zusammen. Es ist zwar ein Linienbus, aber ähnlich einer Standrundfahrt erzählt der Busfahrer unterwegs so manches Wissenswertes über die Gegend. Hätte er nicht erzählt, dass wir gerade die Grenze nach Österreich überqueren, würde es keiner merken. Kurz hinter der Grenze steigen wir auch schon aus und beginnen, leider immer noch bei Regen, mit dem Aufstieg. Dieser ist recht sanft und verläuft über weite Strecken über einen Schotterweg, was bei dem Sauwetter wirklich nicht das Verkehrteste ist. Aufgrund des Wetters69 verzichten wir heute auf eine Rast und sehen zu, dass wir schnell die knapp tausend Höhenmeter hinter uns bringen. Wirklich schade ist es an dem Kleinen Ahornboden, beim schöneren Wetter wäre es ein perfekter Platz für eine ausgiebige Pause, so laufen wir hier nur durch. Langsam wird es auch richtig kalt und wir sind froh, als wir endlich an dem Karwendelhaus ankommen, dessen Anblick uns fast überrascht. Ganz plötzlich taucht es hinter einer Biegung direkt vor uns auf. Unser Zimmer hat annähernd die gleiche Temperatur wie draußen, so sehen wir zu, dass wir in die warme Stube kommen. Hier verbringen wir den restlichen Nachmittag in einem noch größer gewordenen Kreis der Venediggeher. Die Stimmung ist leider etwas schlecht, die  Birkkarspitze liegt tief unter dem Schnee begraben, die Überschreitung ist völlig ausgeschlossen. Uns erwartet eine vierzig Kilometer lange Umgehung über Scharnitz.




Donnerstag, 11. August. Tag   6.

w Als ich nach dem Aufstehen aus dem Fenster blicke, gibt es eine Überraschung. Über Nacht schneite es kräftig, alles ist weiß. Der letzte Funken Hoffnung auf die Überschreitung der Birkkarspitze können wir ganz begraben, vielleicht ist es besser so. Uns bietet sich eine Möglichkeit, runter nach Scharnitz mit zu fahren, diese nutzten wir gerne, zumal es immer noch regnet. 1Allerdings fahren wir nicht wie die anderen ganz runter bis in das Dorf, sondern steigen an dem Karwendelsteg aus, über den wir das Tal mit dem steinigen Flussbett der mittlerweile zu einem kleinen Bach abgemagerten Isar erreichen. Inzwischen regnet es nicht mehr, ja sogar die Sonne kommt immer mehr durch. Wir lassen uns am Ufer der Isar nieder, essen etwas, aber in erster Linie lassen wir uns von der Sonne und von den Aussichten berauschen. In den letzten beiden Tagen gab es beides nicht. Der Weg entlang der Isar ist sehr schön, irgendwann kommen wir an deren Quelle an. Wir lassen uns viel Zeit beim Anstieg. Wir beschließen sogar, einen alternativen Weg zu nehmen, zwar mit deutlich mehr Höhenmetern, dafür aber mit noch schöneren Aussichten. wLeider erweist sich der gewählte Weg als eine Sackgasse. Der anfangs noch gut sichtbare Pfad wird immer undeutlicher, irgendwann gibt es kein Durchkommen mehr. Tapfer stapfte Ywi die gut zweihundert Höhenmeter mir hinterher, jetzt geht es nicht mehr. Uns bleibt nichts anderes über, als den gleichen Weg bis in das Tal abzusteigen, immerhin kennen wir ihn jetzt. Dort legen wir noch einmal ein ausgiebiges Sonnenbad ein. Uns geht es heute richtig gut, wir genießen die letzten Meter vor der Hütte, auch wenn es richtig steil wird. Wir kommen gut ins Schwitzen. Gleichzeitig steigt die Vorfreude auf ein kaltes Bier bei der Ankunft, in den letzten beiden Tagen tranken wir nur heißen Tee, um uns aufzuwärmen! Dasw Hallerangerhaus ist eine eher kleine Hütte. Wir werden persönlich vom Wirt vor der Tür empfangen, auf Anhieb fühlen wir uns hier wohl. Lange sitzen wir draußen in der Sonne und während nach und nach alle anderen ankommen, trinken wir im immer größer werdenden Kreis ganz gemütlich das eine oder andere Bier. Bisher ist es die schönste Hütte auf der Tour, neben den äußerst liebenswerten Hüttenwirtsleuten lernen wir noch einige sehr nette Menschen kennen, nur die Hüttenruhe zwingt uns, diesen schönen Abend irgendwann zu beenden. So ein uriger Hüttenabend fehlte bisher, wir schlafen glücklich ein.




Freitag, 12. August. Tag   7.

d Obwohl es wieder mal leicht regnet, als wir heute von der Hütte loslaufen, ist unsere Laune nach dem wunderschönen gestrigen Abend und einem grandiosen Frühstück heute Morgen bestens. Schon nach den ersten dreihundert Höhenmetern hört der Regen auf und die Sonne kommt raus. Nach dem Lafatscherjoch steigen wir relativ gemütlich die über tausendfünfhundert Meter bis nach Hall ab. Ein ganzes Stück dieses Abstiegs verläuft über den wunderschönen Fluchtsteig, an dem wir besonders viel Spaß haben. In Hall steuern wir als Erstes einen Einkaufsmarkt an. Obwohl wir den ganzen Abstieg mit Rüdiger alleine, ohne eine andere Seele zu sehen, absolvieren, treffen wir in diesem Laden auf andere uns schon gut bekannte Gesichter. Das ist echt witzig. Nachdem wir uns mit ausreichend Proviant eingedeckt haben, laufen wir in die recht nette Altstadt des Örtchens hinunter. Hier verabschieden wir uns von Rüdiger, in den nächsten Tagen geht er eine andere, nicht so schwierige, wenn auch etwas längere Route. Wir wollen mit dem Bus bis zur Talstation der Glungezerbergbahn fahren, allerdings als wir an der Haltestelle ankommen, stellen wir fest, dass wir den Bus gerade verpasst haben. Um nicht dumm herumzusitzen, laufen wir schon mal los, wir können an einer der folgenden Haltestellen einsteigen, der nächste Bus kommt erst in einer Stunde. Als wir auf die Straße zur Talstation einbiegen, sehen wir sofort Schilder, denen wir entnehmen können, dass die Straße wegen eines Bergrutsches für den Autoverkehr gesperrt ist und dementsprechend auch kein Bus fährt. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, die letzte Bahn nach oben fährt schon viertel vor vier. Zum Glück kommen wir an der gesperrten Stelle ohne Probleme zu Fuß vorbei. Wir kommen noch rechtzeitig an. Als wir unten losfahren, ahnen wir nicht, was uns oben erwartet. Allerdings lassen die dick eingemummelten, uns entgegen kommenden  Leute Böses ahnen. Nur mit kurzen Hosen und T-Shirts bekleidet fahren wir Meter für Meter immer höher und es wird immer kälter. Schnell ziehen wir uns oben dick an, es ist echt bitter kalt, irgendwann sinkt die Temperatur unter null Grad. Schnell laufen wir uns aber richtig warm, es geht recht steil nach oben. Leider ist es recht neblig, wir können nicht weit sehen. Plötzlich tauchen aus dem Nebel einige Murmeltiere auf. Die haben wir noch nie gesehen, schnell hole ich die Kamera raus. Die Tiere sind erstaunlich wenig scheu, wir kommen recht nah dran und ich kann einige Bilder machen. Danach geht es in immer rauer werdendem Gelände weiter, bis wir kurz nach achtzehn Uhr an der von außen wenig ansprechenden Hütte ankommen. Als wir eintreten ändert sich unser Eindruck grundlegend. Hier ist alles urig! Inklusive der Wirtsleute. Bei der Anmeldung gibt es zur Begrüßung einen Schnaps, wieder fühlen wir uns sofort richtig wohl. Hier wird jeder mit seinem Vornamen angesprochen, selbst bei meinem klappt es hervorragend. Nach einem grandiosen Essen gibt es bei deutlich unter null Grad liegenden Temperaturen draußen vor der Hütte einen Wetterbericht für morgen. Der Wirt beschreibt erst mal die möglichen Routen für den morgigen Tag, bevor er dann nach gut einer viertel Stunde endlich das herrliche Wetter ankündigt. Tapfer halten wir bis zum Ende durch. „Coole“ Wettervorhersage bekommt an dieser Stelle eine neue Bedeutung. Danach verbringen wir einen weiteren unvergesslich schönen Abend in einer der gemütlichsten Hütten der ganzen Tour! Lange liegen wir heute noch wach, zum einen war es ein wunderschöner Tag, zum anderen sind wir schon richtig aufgeregt wegen der morgigen, als einer der schönsten der gesamten Überquerung angekündigten Etappe. Es ging uns schon mal schlechter im Leben...






Samstag, 13. August. Tag   8.


Schon um sechs Uhr morgens ist die ganze Hütte auf den Beinen, schließlich wird es heute ein langer Tag. Noch vor dem Frühstück sehen wir uns ein phantastisches Naturschauspiel an. Die aufgehende Sonne färbt die in den Tälern hängenden Wolken und die aus ihnen herausschimmernden Gipfel feuerrot. Wir schauen von oben auf das Spektakel herunter und sind fasziniert. Das Frühstück sucht seinesgleichen. Es ist äußerst liebevoll vorbereitet, es gibt sogar frische Brötchen. Draußen ist es noch von dem Nebel des Vortages sehr feucht, die Felsen sind sehr rutschig, so kommen wir anfangs nur langsam voran. Die starke Sonne aber sorgt dafür, dass es mit jeder Minute besser wird und bald können wir die grandiose Gratwanderung in vollen Zügen genießen. Endlich, möchte ich schon fast sagen, so liebe ich die Berge, das ist Bergsteigen, das ist mehr als nur Wandern. Auch Ywi hat, je trockener der Fels wird, immer mehr Spaß und wir kommen gut voran. Immer wieder weiche ich von der Route ab und gönne mir einige Extrameter. Das Wetter ist gut, wir haben eine grandiose Sicht, die Kraxelei macht richtig viel Spaß. An der Kreuzspitze machen wir unsere erste Rast. Diese fällt echt lange aus. Zum einen haben wir gestern in Hall richtig gut eingekauft, es gibt viel Gutes zu essen, zum anderen zieht uns diese grandiose Kulisse immer wieder in ihren Bann. Auf der einen Seite sehen wir den Karwendel. Da kamen wir gestern gerade her, es ist unglaublich wie weit dieser ist. Es erscheint fast unmöglich zu Fuß dort abzusteigen und hier, auf dieser Seite, aufzusteigen. Auf der anderen Seite können wir die Tuxer Alpen sehen, unser Ziel der nächsten Tage. Diese scheinen noch weiter weg zu liegen und vor allem wirken sie viel wilder, schon fast bedrohlich. Da wir schon seit einer guten Stunde hier oben auf dem Gipfel sitzen, gesellen sich im Laufe der Zeit einige Leute dazu, gemeinsam genießen wir diese schöne Zeit. Die Kreuzspitze ist einer der insgesamt sechs Gipfel, die wir heute überschreiten werden, allesamt über 2600 Meter hoch. Der höchste ist das Rosenjoch mit seinen fast 2800 Metern. Als es weiter geht, ändert sich nichts an der Charakteristik, ständig geht es rauf und runter, meistens im Fels, oft muss man klettern. Für uns ist es ein purer Genuss, für manch anderen eher eine große Herausforderung. Wie zum Beispiel für Hans-Dieter, auf den wir an einer Stelle auflaufen, an dieser er aber gar nicht weiter kommt. Wir lassen Ywi vor und ich lotse den Kameraden Tritt für Tritt durch die schwierige Passage herunter. Dafür wird er sich heute Abend mit einem leckeren Weizen bedanken, da sage ich natürlich nicht nein. Leider hat auch diese schöne Gratwanderung irgendwann ein Ende und wir laufen ab dem Naviser Jöchl eher unspektakulär zur Lizumer Hütte hinunter. Unterwegs treffen wir auf am Straßenrand brav, hintereinander in einer Reihe stehenden Kühe, die warten darauf, gemolken zu werden. Es ist ein lustiger Anblick. Ich überwinde meine Angst vor den Viechern und stelle mich für ein Bild an den Anfang der Reihe. Alsbald kommt auch noch der Bergbauer, dem die Kühe gehören vorbei und erzählt uns einiges über die Arbeit und das Leben in den Bergen. Als wir danach loslaufen und kurze Zeit später auch an der Hütte ankommen, scheint immer noch die Sonne und wir können noch ein gutes Stündchen draußen sitzen, bevor uns die abendliche Kühle in die Stube treibt. Hier lernen wir auch Paula und Chris aus Berlin kennen, auch diese beiden werden uns in den nächsten Tagen des öfteren begleiten. Im großen, geselligen Kreis krönen wir diesen wunderbaren Tag mit einem netten Abend, an dem jeder viel zu erzählen hat.




Sonntag, 14. August. Tag   9.

d Da es eher ein kurzer Tag wird, lassen wir uns viel Zeit heute Morgen. Da wir hier ein Doppelzimmer haben, können wir ohne Trubel etwas in den Betten liegen bleiben und uns noch etwas unterhalten, bevor wir uns fertig machen und langsam zum Frühstück gehen. Richtig nett finde ich, als mir einige Leute beim Gang durch den Frühstücksraum deren Nutellapöttchgen überlassen, man kennt mittlerweile die Vorlieben der anderen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes süß. Direkt vor der Hütte steht ein Schild, dem wir entnehmen können, dass wir in zwanzig Tagen in Venedig ankommen werden. Als wir loslaufen scheint uns die Sonne direkt in die Augen. Die Strahlen verlaufen parallel zum Hang und immer, wenn wir hochschauen, werden wir geblendet. Es wird wieder ein schöner, warmer Tag. Wir kommen auch gehörig ins Schwitzen beim Aufstieg zum Geierjoch, wo wir eine ausgiebige Pause machen, wie die meisten anderen übrigens auch. Bald danach sehen wir auch schon den Junssee, zu dem wir auch als nächstes absteigen. Dieser ist wunderschön, allerdings traut sich keiner hineinzuspringen und so gehen wir kurzer Hand weitwer. Als wir den Hintertuxer Gletscher erblicken sind wir ganz schön verdutzt, wir haben alles erwartet, nur nicht Skifahrer im August, das passt einfach nicht. Die Hütte, an der wir ankommen ist nichts besonderes, sie verfügt aber über eine Art Wintergarten, wo wir auch den Abend verbringen. Als wir schon fast auf dem Weg ins Bett sind, blitzt und donnert es plötzlich und ein gewaltiges Gewitter bricht direkt über unseren Köpfen aus. Nur innerhalb Sekunden fällt so viel Hagel, dass die Glasscheiben keinen Ausblick mehr erlauben. Alles ist ganz weiß. Genau so schnell ist es aber auch wieder vorbei und wir gehen ins Bett. Leider können wir beide die ganze Nacht kein Auge zumachen. Grund dafür sind die vom Gewitter völlig verängstigten Kühe, die in der Nähe der Hütte instinktiv Schutz suchen und mit deren lauten Kuhglocken nicht nur uns wach halten. Hier stellt sich die Frage, ob Kühe nachts nicht schlafen? Naja, heute Nacht auf jeden Fall nicht, wir aber auch nicht.





Montag, 15. August. Tag   10.
a
Wir sahen schon mal besser aus, als heute Morgen beim Frühstück, die Nacht hinterließ Spuren, wir sind etwas gerädert. Trotzdem spurten wir uns, für heute Nachmittag sind Gewitter angesagt. Das Wetter ist spitze und anders als viele andere, die mit der Bahn hochfahren, laufen wir gemeinsam mit Rüdiger über einen sehr schönen, recht ausgesetzten Grat bis zum Spannagelhaus. Ab hier wird der Weg deutlich beschwerlicher, Geröllfelder wechseln sich mit Schneefeldern ab, hin und wieder müssen wir kurz klettern. Wir quetschen uns nacheinander durch die Friesenbergscharte und sofort danach müssen wir uns auf den steilen Abstieg konzentrieren, für Rüdiger ist es eine Herausforderung, die er allerdings bravurös meistert, wir müssen ihm kaum noch helfen. Als es schon deutlich flacher wird und wir auf die Uhr schauen, stellen wir fest, dass wir schneller gewesen sind  als wir dachten, also beschließen wir, eine Rast zu machen, das Wetter ist immer noch ein Traum. Die Gewitterwarnung lässt uns aber trotzdem nicht all zu lange hier verweilen, bald sind wir wieder auf den Beinen. Wir laufen los und freuen uns schon auf den schönen Weg bis zu nächsten Hütte. Gut eine Stunde vor dieser wird es plötzlich ganz finster. Quasi aus dem Nichts! Wir ahnen, was uns erwartet, erhöhen unser Tempo und halten Ausschau nach einem geeigneten Schutz. Leider finden wir keine Stelle an der wir uns vor dem mittlerweile tobenden Gewitter in Sicherheit br3ingen könnten. Es hagelt so sehr, dass wir uns auf den Köpfen Helme wünschen. Es wird auch noch richtig rutschig, aber es hilft alles nichts, uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter zu laufen, es gibt einfach keinen Unterstand. Mittlerweile laufen wir in einer Gruppe von ca. 20 Leuten und wir haben alle richtige Angst, so ein Mist, wir sind mitten drin. Für mich ist es das erste Mal, dass wir in den Bergen von einem Gewitter überrascht werden, bisher konnte ich immer rechtzeitig irgendwo sicher unterkommen. Ywi hatte schon mal vor Jahren dieses zweifelhafte Vergnügen. Wir können nur schätzen, aber so ungefähr nach einer halben Stunde hört es genauso plötzlich, wie es angefangen hat, wieder auf. Es kommt sogar die Sonne raus und es wird richtig schön. Als ob nichts gewesen wäre. Die meis3ten sind bis auf die Unterhose nass, wir dank der Regenponchos gar nicht. Als wir an der Hütte ankommen sind die meisten erst Mal weg, um sich umzuziehen, wir lassen uns auf der Terrasse im strahlenden Sonnenschein nieder und genießen den schönen Nachmittag. Wir haben erst vierzehn Uhr, somit wird es heute für uns fast ein Ruhetag, zumindest ein halber. Wir reflektieren die letzten Tage. Dabei fällt uns auf, dass wir nicht wissen welchen Wochentag wir heute haben, geschweige denn welches Datum. Seit dem Beginn der Reise hören wir keine Nachrichten, lesen keine Zeitungen, woher auch, das Telefon hatten wir noch nicht ein einziges Mal eingeschaltet. Wir leben im Hier und Jetzt. Alles andere ist weit weg, nicht wirklich interessant. Ob Schalke schon neue Spieler verpflichtet hat? Keine Ahnung, das werden wir noch rechtzeitig erfahren. Aber jetzt sitzen wir hier, trinken das kühle Bier, freuen uns riesig, dass wir und alle anderen das Gewitter heil überstanden haben. Um nichts in der Welt wollen wir woanders sein. Glück ist manchmal so einfach zu haben...






Dienstag, 16. August. Tag   11.
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Das Angebot der Wirtin, beim Sonnenaufgang zu frühstücken, lassen wir uns heute nicht entgehen, allerdings stehen wir dafür zwanzig vor sechs auf. Es lohnt sich aber, es ist bezaubernd. Faszinierend, wie schnell es geht, innerhalb nur weniger Sekunden kriecht die Sonne über den Gipfel am Horizont und es wird augenblicklich richtig hell. Vor so einer Kulisse schmeckt uns das Frühstück richtig gut, ab morgen wird schon italienisch gefrühstückt, wer weiß, was uns da erwartet? Wir lassen uns also richtig Zeit und genießen das Ganze. Danach geht es ohne große Auf- und Abstiege über einen Höhenweg zum Pfitscherjoch. Die mit gr3oßem Aufwand aneinander gereihten Platten und Steine wirken etwas fehl am Platz in diesem wilden Gelände. Dann ist es aber soweit, wir stehen endlich an der Grenze nach Italien! Wir können es kaum glauben. Wir lassen Dirk und Wilhelm vorlaufen, Rüdiger ist eh schon längst weg, und wir gehen gemeinsam und Händchenhaltend drüber. Natürlich machen wir das eine oder andere Bild und freuen uns schon auf den ersten Espresso in bella Italia, den wir gleich am Pfitscherjoch trinken wollen. Das schminken wir uns aber schnell ab. Das Haus ist voll. Es gibt eine lange Schlange am Tresen. Es ist laut und hektisch. Uns verlässt  völlig die Lust und wir laufen direkt weiter. Wir verabschieden uns aber davor noch v3on Dirk und Wilhelm, die hier übernachten müssen. Es könnte sein, dass wir uns nicht mehr sehen werden. Der Abstieg nach Stein ist wunderschön. Mittlerweile haben wir Rüdiger eingeholt, laufen zu dritt und sind so gut wie alleine unterwegs. Alles scheint anders zu sein. Es ist wärmer, es riecht besser, die Pflanzenwelt ist üppiger. Wir sind in Italien! Irgendwann fragen wir uns schon, ob wir noch alle Tassen im Schrank haben. Wir haben doch nur die blöde Grenze überschritten, nicht den Kontinent gewechselt. Allerdings erzählten uns später welche, dass es denen auch so vorkam. Auch wenn der Abstieg nach Stein einen Umweg bei der Überquerung der Alpen bedeutet, so finden wir, es ist ein Muss diesen Ort zu besuchen. Hier angekommen, fragen wir uns, wann die Zeit hier stehen geblieben ist? Gestern, letztes Jahr, oder doch schon vor Jahrzehnten? Laut, schnell und hektisch sind hier Fremdwörter, dieser Ort strahlt nicht nur die Ruhe aus, er ist die Ruhe selbst. Beim Abendessen gibt es in der Pension zum ersten Mal auch viele Einheimische, das war bisher auf den Hütten nie der Fall. Wir genießen den Abend sehr und trinken zum ersten Mal kühlen, italienischen Wein. Morgen trennen wir uns von dem Rest der Truppe, für uns gibt es einen Abstecher zum Hochfeiler, alle anderen bleiben in der Route nach Venedig. Es ist ein rührender Abschied.




Mittwoch, 17. August. Tag   12.


Schon fast wehmütig verlassen wir heute Morgen Stein, der Aufenthalt an diesem Ort hat uns gut gefallen. Wir laufen gemeinsam mit den anderen Venediggehern los, treffen nach kurzem Aufstieg sogar auf weitere bekannte Gesichter, die vom Pfitscherjoch herunter kommen, trennen uns allerdings recht bald von allen und wählen den Weg zur Hochfeilerhütte. Ich bin so heiß auf den Gipfel, dass ich ein viel zu hohes Tempo einschlage. Das Gewitter von vor Kurzem spukt noch im meinem Kopf und für heute Nachmittag könnte es wieder eines geben. Dass wir zu schnell unterwegs sind, merke ich irgendwann an dem Gesichtsausdruck Ywis. Sie ist tapfer, sagt kein Wort, sie weiß, wie ich mich auf den Hochfeiler freue, aber es ist halt viel zu schnell für sie und sie leidet. Wir machen eine Pause und laufen anschließend in einem normalen Tempo weiter. Anders als auf dem Traumpfad, sind wir hier die ganze Zeit die einzigen, die unterwegs sind. Nach noch nicht einmal vier Stunden seit Stein erreichen wir kurz vor Mittag die Hütte. Als erstes werfe ich alles Unnötige aus dem Rücksack, damit er leichter wird. Dann frage ich den Wirt nach der neusten Wetterprognose. Er empfehlt mir hochzugehen, man hat die ganze Zeit eine weite Sicht, eine Schlechtwetterfront kann man rechtzeitig erkennen und herunter kommen. Gleichzeitig nahm er mir jegliche Illusionen, die letzten fünfzig Höhenmeter käme ich ohne Steigeisen nicht hoch. Ich lasse Ywi in der warmen Stube beim heißen Tee zurück und laufe los. Auch wenn ich den Gipfel nicht erreichen werde, so komme ich trotzdem auf eine Höhe, auf der ich noch nie war. Jetzt bin ich wieder richtig schnell unterwegs. Immer wieder schaue ich mich nach dunklen Wolken um, aber das Wetter bleibt stabil, es scheint die Sonne, alles ist perfekt. Je höher ich komme, desto kälter wird es, aber das ist beim Aufstieg kein Problem, es bleibt deutlich über null Grad, sodass ich sogar die kurze Hose anbehalten kann. Ich weiß nicht, ob es an der schlechten Wetterprognose liegt, aber ich bin heute völlig alleine an diesem sonst so beliebten Gipfel. Es ist traumhaft. Ich bin fasziniert von den Aussichten. Den letzten Teil des Weges geht man über einen recht ausgesetzten Grat, dessen beide Flanken irgendwann unter dem Schnee verschwinden . Es ist ein irres Gefühl da hoch zu klettern. Kurz vor dem Gipfel verschwindet aber auch der spitze Grat komplett unter dem Schnee. Eigentlich Schluss für mich an dieser Stelle. Es gibt aber tiefe Aufstiegsspuren im Schnee. Vorsichtig teste ich es mal an und setze den Fuß hinein. Es ist kein bisschen vereist, im Gegenteil, ich sacke sogar etwas ein. Da wird mit klar, das werde ich packen, sogar recht entspannt. Die Spuren im Schnee sind wie Treppenstufen und da sie nicht glatt sind, auch völlig sicher. Trotzdem kehre ich erstmal um und mache eine Pause. Der schnelle Aufstieg fordert seinen Tribut, bis hierher habe ich über zweitausend Höhenmeter in den Beinen und zwar in einem Affentempo. Ich zwinge mich so lange zu ruhen, bis sich mein Atem völlig beruhigt. Erst dann gehe ich hoch. Nach gut zehn Minuten erreiche ich den Gipfel, den höchsten hier in den Zillertaler Alpen. Und es erwartet mich eine Überraschung. Die absolute Spitze, vielleicht gerade mal einen Quadratmeter groß, auf dieser irrsinnigen Höhe von dreitausendfünfhundertundzehn Metern ist schneefrei. Ein kleines Fleckchen in dieser weißen Wüste. Auch wenn es richtig kalt ist, verweile ich recht lange hier oben. Bergsteiger kennen es, allen anderen vermöge ich diese Glücksgefühle da oben mit Worten nicht zu beschreiben. Ich mache einige Bilder, diese sagen viel mehr aus. Es ist ein grandioses Erlebnis. Das Wetter bleibt traumhaft und ich mache mich jetzt, diesmal  deutlich langsamer, auf den Rückweg. Faszinierende Aussichten zwingen mich immer wieder stehen zu bleiben, um diese förmlich aufzusaugen. Als ich an der Hütte ankomme, wundern sich einige, wie schnell ich wieder zurück bin. Wenn heute zehn Leute hier übernachten, dann ist es viel. Von dem Essen hier auf der Hütte haben wir schon im Vorfeld einiges gehört, was uns aber serviert wird, übertrifft alles. Es ist definitiv das beste Essen der gesamten Alpenüberquerung! Danach wäre ich niemals auf den Gipfel gekommen. Um den Erfolg zu feiern trinken wir mit Ywi einen ganzen Liter Wein. Auch der Wirt gesellt sich zwischenzeitlich zu uns, erzählt einiges über den Hochfeiler. Noch mehr interessante Geschichten erzählt ein älterer, netter Herr, der sich als Bergführer und langjähriger Bergretter entpuppt. So erfahren wir sehr viel über die Gegend und die Leute. Es ist ein äußerst kurzweiliger Abend, den wir, wie den gesamten Tag, nicht so schnell vergessen werden.





Donnerstag, 18. August. Tag   13.



Heute frühstücken wir recht lange, der Abschied von der gemütlichen Hütte und den netten Leuten fällt uns schwer. Der gestrige Tag war nicht ohne und die ersten Schritte fallen mir dementsprechend nicht leicht, es wird wohl noch eine Weile dauern, bis der Muskelkater vergeht. Der Weg, über den wir wieder auf den Traumpfad kommen, lässt die Schmerzen aber schnell vergessen. Dieser ist nämlich ausgezeichnet markiert, aber so gut wie überhaupt nicht begangen. Von einer Markierung zur nächsten müssen wir uns den Weg über die Felsen selber suchen, es macht uns viel Spaß. Auf dem eigentlichen Traumpfad wieder angekommen, quälen wir uns auf die Gliederschartl, wo wir erst eine Pause machen. Hier haben wir eine phantastische Sicht auf den Hochfeiler, wir nehmen Abschied von diesem Berg. Noch während wir dort sitzen, kommen andere Leute hoch gelaufen. Man kann sie schon von Weitem hören, einige filmen sich bei der Ankunft mit dem eigenen Telefon auf einem Stock. Sofort wird es laut und hektisch hier oben, wir flüchten lieber, beenden unsere Rast und laufen weiter. Der Abstieg ist recht sanft, aber er hört einfach nicht auf. Es zieht sich etwas, bis wir endlich in Pfunders ankommen. Dort laufen wir, nachdem wir unser Quartier bezogen haben, als Erstes in das Dorf hinunter, um einzukaufen. Es ist nicht weit, aber wir müssen über einen Steig steil hinab und auf der anderen Seite steil hinauf. Ich verfluche mich, dass ich die Wanderschuhe nicht angelassen habe. Wir kaufen frisches Brot, Käse und ein recht großes Stück Schinkenspeck, für das uns einige in den nächsten Tagen beneiden werden. Darüber hinaus holen wir uns auch einige Flaschen Bier, die wir auf dem Rückweg an einem schönen, aussichtsreichen Plätzchen am Steig genüsslich verzehren. Abends beim Essen lernen wir ein nettes Pärchen aus Arnheim in den Niederlanden kennen. Uli und Martijn laufen auch nach Venedig, sie haben vor kurzem geheiratet und es ist deren Hochzeitsreise. Wir sind baff. Den Abend verbringen wir gemeinsam, der gerade dank Uli ein sehr lustiger wird.




Freitag, 19. August. Tag   14.


Eigentlich wollen wir die ersten drei Kilometer, die über eine stark befahrene Straße verlaufen, mit dem Bus fahren, aber er kommt erst in vierzig Minuten. Bevor wir jetzt so lange hier warten, laufen wir lieber los. Nach den vier gefährlichen Kilometern kommen wir gleichzeitig mit dem Bus an einer Stelle an, an der wir diese grässliche Straße verlassen. Ab hier kann man dann schon recht entspannt laufen, wir durchqueren ein, zwei kleine Dörfer. Bisher ging es die ganze Zeit herunter, jetzt ändert es sich aber gewaltig. Wir betreten einen Wald, in dem es steil nach oben geht. Die ganze Zeit, ohne flachere Abschnitte, nur steil. Und es ist warm und schwül. Der Anstieg ist richtig anstrengend. Schon bald wollen wir eine Pause machen. Wir haben noch nicht mal die Rucksäcke ausgezogen, da wird Ywi mindestens fünf mal von den Mücken gestochen. Sofort müssen wir flüchten vor diesen Monstern. Über tausend Höhenmeter bei diesen Bedienungen fordern ihren Tribut, richtig ausgepowert kommen wir oben an der Roner Hütte an. Wir sind nicht die einzigen, denen es so erging, viele Leute erholen sich hier von dem anstrengenden Anstieg, der für uns als mit der mühevollste der ganzen Tour in Erinnerung bleiben wird. Und diese Mücken vergessen wir auch wahrscheinlich nie! Bis zur Kreuzwiesen Alm brauchen wir dann noch zwei weitere Stunden, aber es ist ein leichter Weg. Als wir an der Hütte am frühen Nachmittag ankommen, strahlt die Sonne und wir legen uns mit kühlen Getränken in die Liegestühle, die auf der Wiese davor stehen. Bis zum Abendessen verlassen wir diese nicht mehr, außer um Getränke zu holen. Diese wenigen Stunden lassen uns richtig Kraft tanken, die letzten Tage waren schon anstrengend. Leider ist die Hütte abends sehr laut. Die Gruppe, die wir an der Gliederschartl schon mal kennen gelernt haben, sorgt für viel Trubel, sie ist sehr laut, feiert und palavert ununterbrochen. Wir verziehen uns mit Uli und Martijn recht früh auf unserem Lager und vermissen die Leute, die uns durch unseren Extratrip zum Hochfeiler um einen Tag enteilt sind. 





Samstag, 20. August. Tag   15.



Die Nacht haben wir mit dreißig anderen Wanderern auf einem Lager verbracht, wir staunen, dass wir durchschlafen konnten. Allerdings gibt es beim Aufstehen überhaupt keinen Sauerstoff hier und ich bin froh, das Lager zu verlassen. Nach dem Frühstück laufen wir von einem grünen Gipfel zum nächsten, es kommt uns vor wie Schottland, allerdings sind die Hügel hier gut zweitausend Meter hoch. Leider ist die Sicht am Vormittag nicht all zu gut, erst im letzten Drittel können wir die wilden Gipfel der Dolomiten vor uns sehen. Und die Freude wächst. Insgesamt ist es heute ein sehr entspannter Tag für uns, es fällt uns leicht zu laufen, wir genießen es einfach, zu mal wir fast immer alleine unterwegs sind. Am Würzjoch ändert sich das allerdings schnell. Hier ist es voll. Wir sehen zu, dass wir schnell weiter kommen. Tatsächlich wird es mit jedem Meter leerer. Es gibt noch etwas, dass sich verändert hat. Wir laufen jetzt über den auffallend hellen, typischen  Fels der Dolomiten. Und immer öfter müssen wir unsere Hände zuhilfe nehmen, es gibt einige Kletterpassagen. Es ist ein kleiner Vorgeschmack auf die nächsten Tage. Es sind die ersten Meter auf dem Dolomiten Höhenweg, diesen werden wir in den nächsten Tagen nicht verlassen. Es gibt einen Schreckmoment für uns, als plötzlich ein faustdicker Stein wie aus dem nichts den Abhang, keine zwei Meter entfernt, mit irrer Geschwindigkeit an uns vorbei rauscht. Wir sind völlig alleine unterwegs, keine Ahnung woher dieser kommt. Das war aber knapp. Als wir auf der Hütte ankommen, gibt es eine Riesenüberraschung. Sowohl Rüdiger wie auch Dirk und Wilhelm gönnten sich hier einen Ruhetag und erwarteten uns schon auf der sonnigen Terrasse. Obwohl wir uns eigentlich kaum kennen, nur einige Tage gemeinsam gewandert sind, ist unsere Freude riesig. Es wird ein schöner Abend, zumal wir heute Bergfest feiern können. Dabei stellen wir uns schon mal die nächsten Tage in den Dolomiten vor und freuen uns darauf.




Sonntag, 21. August. Tag   16.


Als wir nach dem Aufstehen aus dem Fenster schauen, erwartet uns eine dichte, graue Suppe draußen. Da die heutige Etappe eher zu den kürzeren zählt, lassen wir uns Zeit beim Frühstück und laufen danach ganz gemächlich los. Die ganze Zeit ist die Sicht gleich Null, wir können kaum fünfzig Meter weit sehen. Umso mehr zieht der Wegesrand unsere Blicke an. Vor allem ist es Edelweiß, das unsere Augen erfreut. So viel Edelweiß wie hier, haben wir noch nie gesehen. Hunderte Pflanzen sieht man unterwegs. Es ist unglaublich. Unglaublich schön. Eine recht kurze, aber sehr schöne Kletterpassage durch einen Kamin sorgt für etwas Adrenalin, bevor wir dann die Nives-Scharte erreichen. Dort angekommen wollen wir eine Rast einlegen und den restlichen Schinken vertilgen. Die Sicht ist zwar nach wie vor nicht vorhanden, aber was sollen wir so früh auf der Hütte? Kaum haben wir uns hingehockt, fängt es an zu regnen. Wir müssen weiter. Irgendwann hört der Regen auf, wir laufen noch eine ganze Weile weiter und wir setzten uns wieder hin. Leider das gleiche Spiel. Es fängt wieder an. Also wieder weiter. Wir beschließen, an der Hütte die Rast zu machen, dort können wir uns sogar Wein dazu holen. Das ist auch das Erste, was wir bei der Ankunft machen, Wein holen. Inzwischen regnet es nicht mehr. Kaum setzen wir uns hin und holen den Schinken raus, fängt es erneut an. An der ganze Hütte gibt es keine Überdachung, wir sind gezwungen, rein zu gehen. Es bleibt uns heute nicht vergönnt, draußen eine Pause zu machen. Es ist noch richtig früh. Wir sitzen gemeinsam mit den anderen und ich überlege, ob ich noch mal raus soll, irgendwie bin ich nicht ausgelastet und brauche Bewegung. Da keiner mehr Lust hat, bei diesem Nebel, zum Glück regnet es nicht mehr, mitzukommen, ziehe ich mich an und laufe alleine los, mit dem Ziel die Puezspitze zu besteigen. Es sind fast fünfhundert Höhenmeter, aber ich schaffe es erstaunlich leicht. Oben baue ich sogar noch einen großen Steinmann, jetzt habe ich auch einen eigenen. Morgen wird Rüdiger diesen Steinmann aus mehreren Kilometern Entfernung sogar mit dem Teleobjektiv seiner Kamera fotografieren können. Und wieder habe ich den ganzen Berg für mich alleine. Fast hätte ich das Abendessen verpasst, alle warten schon auf mich. Beim Abendessen lichtet sich plötzlich der Nebel und wir bekommen einen phantastischen Regenbogen zu sehen. Die ganze Hütte rennt nach draußen, um diesem irrsinnigen Naturereignis beizuwohnen und Bilder zu machen. Auch mir gelingt es einige zu schießen. Bis spät in den Abend beherrscht der märchenhafte Regenbogen die Gesprächsrunde.




Montag, 22. August. Tag   17.


Als wir gestern auf der Puezhütte ankamen, konnten wir wegen des Nebels praktisch nichts sehen. Der Blick nach draußen verschlägt mir nun die Sprache. Wilde Felsformationen, steile Wände, tiefe Abgründe, egal wo man hinschaut. Es ist ein unglaublicher Anblick. Als wir loslaufen, reibt sich so mancher die Augen. Erst aus der Entfernung wird die Größe der Puezspitze deutlich. Unglaublich, dass ich gestern dort oben war. Je näher wir dem Grödner Joch kommen, umso mehr Leute kommen uns entgegen. Wir laufen herunter, sie quälen sich alle hinauf. Was heißt hier laufen, oft müssen wir kurz hinabklettern, das macht richtig Laune. Hinter dem Joch sind wir es, die sich jetzt hoch quälen müssen. Bewusst machen wir in der Sonne unsere Pause, wohl wissend, dass der folgende Aufstieg über das Schotterfeld komplett im Schatten liegen wird. Eigentlich wollten wir länger dort verweilen, aber während wir noch in der Sonne liegen, steht Rüdiger schon wieder auf, zieht seinen Rucksack an und scharrt mit den Füßen. Mit Gemütlichkeit hat er es nicht so. Wir laufen ihm hinterher. Für den anstrengenden Anstieg werden wir aber gut entschädigt. An der Rifugio Pisciadù bietet sich uns ein spektakulärer Anblick. Zum einen der smaragdgrüne See, zum anderen die steile Wand des Cima Pisciadù. Zum wiederholten Mal am heutigen Tag verlieren wir die Sprache. Es ist ein grandioser Anblick. Wir laufen direkt am Ufer des Sees vorbei und nehmen uns des Aufstiegs an, der immer steiler wird, bis wir irgendwann in einem gesicherten Steig landen. Das ist nochmals eine Herausforderung für Rüdiger, aber er wird hierbei immer sicherer, so kommen wir auch bald auf der Hochfläche an, von der wir schon den Piz Boè sehen können. Warum die Einheimischen von einer Mondlandschaft hier oben sprechen wird uns sofort klar. Die Ebene ist wirklich eben und komplett aus Fels. Völlig surreal. Einige Felsbrocken, manche sogar recht groß, sorgen für Abwechslung. Es fehlen jegliche Farben, alles ist einheitlich hell grau. Es lässt sich kaum in Worte fassen. Und dann die Weitsicht! In fast alle Richtungen kann man kilometerweit sehen. Wir sind wieder völlig fasziniert. Es ist noch recht warm, die Sonne bemüht sich redlich, also nutzen wir die Gelegenheit und setzen uns erstmal hin. Einige andere gesellen sich dazu, unter anderem auch Dirk und Wilhelm. Wir können uns kaum satt sehen an dieser Landschaft, viel gesprochen wird nicht. Nach und nach laufen die Leute dann irgendwann weiter, bis wir mit Ywi nur noch die einzigen sind. Die Stille ist überwältigend, der Alltag so weit weg, wir sind so froh, hier zu sein. Irgendwann geht die Sonne unter und die Kälte zwingt uns weiter zu gehen. Keine Stunde später kommen wir auch an der gemütlichen Hütte an, wo die anderen schon auf uns warten. Der Abend ist richtig nett, wir genießen den ausgezeichneten Wein und planen den morgigen Tag. Einige wollen zum Sonnenaufgang auf den Piz Boè. Ich nicht, lieber schlafe ich gemütlich aus und laufe nach dem Frühstück hoch, zumal der morgige Tag eh kurz wird.






Dienstag, 23. August. Tag 18.


Als die Leute um fünf Uhr morgens zum Gipfel des Piz Boè aufbrechen um den Sonnenaufgang zu erleben, werden wir, wie die ganze Hütte ebenfalls, wach. Leider plagen mich mächtige Kopfschmerzen und mir ist auch übel. Die Hütte liegt auf knapp dreitausend Metern Höhe, nicht dass es vielleicht die Höhenkrankheit ist. Wäre schade, weil dann sollte ich schleunigst runter. Ich nehme eine Tablette und flüchte bis zum Frühstück nach draußen, um Sauerstoff zu tanken. Es ist bitter kalt, aber es tut mir gut und es geht mir schon besser. Die anschließenden zwei Tassen Kaffee tragen ihr Übriges dazu bei, dass die Kopfschmerzen völlig verschwinden und ich nach dem Frühstück doch den Gipfel besteigen kann. Keine Stunde davor hätte ich keinen Cent darauf gewettet. Mann, ist es kalt! Obwohl die Sonne schon kräftig scheint, haben wir deutlich unter Null Grad. Immer wieder gibt es völlig vereiste Stellen, die ich nur mit äußerster Vorsicht überqueren kann. Zum Glück ist der Weg nach oben nicht schwer, der Piz Boè ist einer der einfachsten Dreitausender der Alpen. Oben wartet schon jemand auf mich, der Wind. Es ist sehr ungemütlich, aber es gibt als Belohnung eine grandiose Aussicht. Nur in einer Felsnische versteckt kann ich einige Augenblicke dort oben ausharren. Danach muss ich aber flüchten. Ywi erwartet mich schon an der Hütte mit einem warmen Tee. Als wir endlich aufbrechen, ist es fast elf Uhr. Es ist heute nicht weit für uns, wir haben Zeit. Wie beliebt der Gipfel wirklich ist, zeigt sich uns schon auf den ersten Metern hinter der ersten Biegung. Wir erblicken die Bergstation der Pordoibahn, von der uns hunderte von Menschen in einer einzigen riesigen Karawane entgegenkommen. Es ähnelt einer Ameisenstraße. Sie wollen alle auf den Gipfel. An einer Stelle, die mit Seilen versichert ist, haben wir keine andere Chance, als abseits des Seils weit weg von der eigentlichen Route an den Massen vorbei zu klettern. Wir kommen uns vor wie im falschen Film. Als wir die Pordoi Scharte passieren, hört der Spuk augenblicklich auf. Die meisten fahren mit der Bahn hoch, unser Weg ist jetzt wieder recht einsam. Aber auch nur bis zur Talstation der Bahn, hier herrscht wieder viel Trubel. Wir queren die Straße und steigen auf der anderen Seite zur Viel dal Pan Hütte auf. Der eigentliche Weg, der Bindelweg, ist recht voll, so entscheiden wir uns für eine Gratwanderung über den Padonkamm mit seinem eigenartigen Vulkangestein, der uns spektakuläre Ausblicke, aber auch einige Höhenmeter extra beschert. Unser Zimmer auf der Hütte ist ein Traum. Wir haben eine eigene Dusche, eine Sitzecke und ein großes, frisch bezogenes Bett. Die ganze Hütte gefällt uns ausgezeichnet. Es ist noch früh, also nehme ich noch den nah gelegenen Gipfel in Angriff, von der Hütte sieht er vielversprechend aus. Ywi war nicht zu überreden, sie will das schöne Zimmer und vor allem das luxuriöse Badezimmer in vollen Zügen genießen. Tatsächlich komme ich hier oben auf meine Kosten, eine kurze, aber knackige Kletterpassage führt mich auf den Gipfel. Von hier oben kann ich mich von dem Piz Boè auf der einen Seite verabschieden und auf der anderen die mächtige Flanke der Marmolada bewundern. Im Übrigen bin ich schon wieder, wie so oft auf dieser Tour, der einzige Mensch auf dem Berg. Es ist phantastisch. Als ich unten an der Hütte bei der auf der Terrasse in der Sonne mit dem Wein wartenden Ywi ankomme, treffen gerade einige Biker an, mit denen wir ins Gespräch kommen. Auch sie sind schon seit einigen Tagen unterwegs, wir bekommen etwas Einblick in das Leben auf dem Fahrrad. Es ist garantiert auch schön, auch wenn der eine oder andere von den Kollegen schon einige Schrammen aufzuweisen hat. Wir lassen den Abend relativ ruhig ausklingen. Abends auf dem Zimmer fällt mir meine verbrannte Nase im Spiegel auf, anscheinend ist die Sonne hier oben stärker als ich dachte. Das Eincremen hilft nur bedingt, ich werde wohl die nächsten Tage ein bisschen leiden müssen.





Mittwoch, 24. August. Tag 19.



Den ganzen Morgen blicken wir schon auf die riesige, größtenteils unter dem Gletscher liegende Flanke der Marmolada. Dabei steigen wir immer mehr ab, bis wir unten an dem künstlich entstandenen Stausee ankommen. Unterwegs treffen wir zwei ältere Herren, die sich nach einer kurzen Unterhaltung als zwei alte Hasen in den Bergen mit mehr als hundert bestiegenen Dreitausendern erweisen. Gebannt hören wir ihnen zu, aber auch sie zeigen sich von unserem Vorhaben zu Fuß von München nach Venedig zu laufen sehr angetan. Leider laufen wir ab der Talsperre erst über eine Straße, anschließend über unzählige Skipisten. Wir können uns sehr gut vorstellen, was hier im Winter los ist. Wir passieren einige Skihütten, die allesamt im Sommer zu sind, auf der Terrasse einer dieser machen wir uns bequem und widmen uns unserer leckeren Brotzeit. Lange danach liegen wir noch in der Sonne, bevor wir uns endlich aufraffen und weiter laufen. Rüdiger bleibt zurück, hier hat er gutes Netz und das muss er ausnutzen. Wir queren die Marmolada-Bergbahn, es ist unfassbar, in welcher Höhe die Gondeln schweben!  Langsam wird es wieder voll auf dem Weg, spätestens in der Schlucht Serrai di Sottoguda, für die wir sogar je zwei Euro Eintritt zahlen müssen. Es lohnt sich, wir sehen tatsächlich die ersten Flip-Flop-Träger dieses Sommers! Als wir die malerische Ortschaft Sottoguda durchqueren, laufen wir an einer Eisdiele vorbei, unserer ersten in Italien. Wir überlegen noch nicht einmal und setzen uns direkt hin. Das Eis ist zwar sündhaft teuer, aber es schmeckt auch irrsinnig gut. Es fällt uns schwer aufzustehen, aber wir müssen weiter. Just in dem Moment kommt Rüdiger angelaufen. Gemeinsam laufen wir nach Alleghe hinunter. Wie aus dem nichts, ohne jegliche Vorwarnung, hinter einer Wegbiegung taucht plötzlich die Civetta vor uns auf. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Welch ein Berg! Bis nach Alleghe bleibt sie die ganze Zeit mitten in unserem Blickfeld, bis wir irgendwann richtige Nackenschmerzen vom Nach-Oben-Starren bekommen. Ab sofort nennen wir die Civetta den Nackenberg. Der Ort Alleghe ist relativ spießig. Wir lassen es uns nicht nehmen und setzen uns mit Flaschenbier, das wir unterwegs gekauft haben, an das Ufer des Sees und lassen es uns richtig schmecken, was uns schon den einen oder anderen erbosten Blick beschert. Anschließend treffen wir uns mit unseren Freunden Dirk, Wilhelm und Rüdiger auf unsere erste Pizza in Italien in einer kleinen netten Pizzeria etwas außerhalb des Trubels. Während des Essens schmieden wir Pläne für morgen, Dirk und ich wollen auf den Gipfel der Civetta. Lange liege ich an diesem Abend wach und wiege die verschiedenen Möglichkeiten ab, leider muss ich irgendwann einsehen, es ist morgen nicht zu machen, dafür ist die Tour zu lang, das schaffen wir nicht.





Donnerstag, 25. August. Tag 20.



Da wir die Besteigung der Civetta ad acta gelegt haben, haben wir natürlich viel Zeit am heutigen Tag. Wir frühstücken erst ausgiebig mit den anderen. Danach geht es mit der Gondel bis zur Mittelstation hoch. Hier, trotz der recht frühen Uhrzeit, sind schon einige Menschen auf dem Weg nach oben. Eigentlich wollten wir einen anderen, etwas spannenderen Weg nehmen. Wir haben uns aber verlaufen, und latschen jetzt diese dämliche Skipiste hoch. Da hätten wir direkt nach oben fahren können. Egal, da müssen wir jetzt durch. Als wir oben ankommen, müssen wir uns die Augen reiben. Hunderte Menschen sind hier unterwegs. Wir sind keine Sekunde alleine bis zum Lago Coldai. Kein Wunder bei diesem hochsommerlichen Wetter. Am See machen wir erst mal eine Pause, während dieser ich, Ywi und Dirk beschließen, den nah gelegenen Gipfel, den Cima Coldai, zu besteigen. Wilhelm und Rüdiger legen sich am Ufer des Sees in der Sonne hin. Der weglose Aufstieg macht uns richtig Spaß, die letzten Höhenmeter sind so steil, dass wir klettern müssen. Von oben versuchen wir die anderen unten am See ausfindig zu machen, aber es ist zu weit. Also lassen wir uns von der wahnsinnigen Aussicht berauschen. Der Nackenberg, die Civetta, ist auch aus dieser Perspektive unglaublich schön. Als wir unten ankommen, gibt es kein Halten mehr, ich und Wilhelm, später auch Dirk und Rüdiger springen in den eiskalten Gletschersee. Lange halten wir es nicht aus in dem kalten Wasser und sind ganz froh uns zum Trocknen in die Sonne zu legen. Als wir so die Silhouette der Civetta betrachten, legen wir uns mit Ywi fest, wir müssen bald wieder kommen. Dann aber mit der Kletterausrüstung. Auf dem weiteren Weg zurr Tissi Hütte laufen wir die ganze Zeit am Fuße dieser beeindruckenden, bis zu eintausenzweihundert Meter hohen Wand entlang. Wieder meldet sich mein Nacken vom ständigen nach oben schauen. Hin und wieder hören wir Steinschlag, sehen können wir allerdings nichts. Mittlerweile sind deutlich weniger Leute unterwegs, nur sporadisch begegnet uns noch jemand. Als wir auf der Hütte ankommen, machen wir uns direkt auf den Weg zu dem nah gelegenen Col Rean. Diesen als Berggipfel überhaupt wahr zu nehmen fällt uns etwas schwer, ohne das Gipfelkreuz wäre er uns gar nicht aufgefallen. Der Ausblick von hier ist aber einmalig. Ich lege mich hin und strecke mutig den Kopf über die Bruchkante. Fast senkrecht geht es hier tausend Meter runter, Alleghe liegt dort unten wie auf einem Präsentierteller, ich kann deutlich unser Hotel und den See von gestern sehen. Dieser Ausblick, aber natürlich auch der wunderschöne Blick auf die Civetta von hier oben veranlassen uns, nach dem Abendessen nochmal hierhin aufzusteigen und uns den Sonnenuntergang anzusehen. Dieses Spektakel erleben wir mit vielen anderen hier oben, die die gleiche Idee hatten wie wir. Einige haben Wein dabei, wir leider nicht. Kaum einer sagt etwas, so faszinierend ist dieses Schauspiel. Die untergehende Sonne färbt die umliegenden Felsen feuerrot, alles brennt um uns herum. Als es dunkel wird, sitzen wir noch lange hier und lassen das Gesehene nachwirken, erst die Kälte lässt uns die Hütte aufsuchen.





Freitag, 26. August. Tag 21.



 Nach dem Frühstück geht es erst mal richtig herunter. Immer noch entlang der Civetta. Wir nehmen Abschied von diesem grandiosen Berg und hinterlassen das Versprechen, wieder zu kommen, da sind wir uns mit Ywi völlig einig. Nach gut eineinhalb Stunden kommen wir an der Rifugio Vazzoler an, wo wir zum einem an einem Brunnen unser Wasser auffüllen, zum anderen auch eine kurze Pause auf der Terrasse einlegen. Rüdiger muss sich eincremen, das gestrige Sonnenbad am See hat auf seinem Rücken deutliche Spuren hinterlassen. Bei dieser Gelegenheit finden wir weitere Vorteile des Hirschtalgs heraus. Es wirkt fast Wunder bei einem Sonnenbrand. Danach laufen wir zum Glück viel durch ein kleines Wäldchen, bei der Hitze sind wir über den Schatten sehr dankbar. Auf dem letzten Drittel vor der Hütte queren wir einige Schluchten und Geröllfelder. Die Palette ist breit und reicht vom Schotter unter den Füßen bis hin zu meterhohen, von den Wänden abgefallenen Felsbrocken, über die wir klettern müssen. Die Landschaft erinnert uns stark an die Berge auf Mallorca, genauer an den Torrent de Pareis. Die Kletterei macht uns natürlich riesigen Spaß. Als wir an der Hütte ankommen, ist es noch recht früh. Wir lassen die Klamotten zurück und laufen zu dem ganz in der Nähe liegenden Anfangspunkt des Constantini-Klettersteigs. Hier macht Ywi sich mit einem Buch bewaffnet in der Sonne bequem, während ich mich auf dem Weg nach oben mache. Ich nehme mir vor, eine Stunde hochzuklettern, danach werde ich umkehren. In dieser Stunde schaffe ich gute zweihundert Höhenmeter. Bisher sah ich nur ein einziges Mal Edelweiß in den Bergen, auf dieser Tour schon unzählige, heute sogar hier im Klettersteig. Unglaublich. Ich klettere wieder ab, sammle unterwegs Ywi ein und wir laufen zurück zur Hütte, auf deren Terrasse wir schon von den anderen mit leckerem Wein erwartet werden.





Samstag, 27. August. Tag 22.



 Als wir heute runter zum Frühstück kommen, staunen wir nicht schlecht. Mehr als die Hälfte der Leute auf der Hütte sind Kletterer, die sich auf den Weg zum Klettersteig machen. Uns ist es gestern Abend nicht aufgefallen, dass es so viele sind. Die Stube der Hütte ist relativ eng, also frühstücken wir draußen. Ywi hat brav die ganze Zeit ihren Klettergurt mitgeschleppt, ich will mir einen gleich am Passo Duran ausleihen. Daraus wird es aber nichts, leider gibt es keinen mehr bzw. sie werden nur an Gäste, die auch hier übernachten, ausgeliehen. Da werde ich wohl ohne auskommen müssen. Jetzt geht es einige Kilometer über eine zum Glück nicht all zu viel befahrene Straße. Sobald wir diese verlassen, geht es sofort nach oben. Erst eher gemäßigt, ab der Forcella del Moschesin steil. Insgesamt legen wir tausendzweihundert Höhenmeter zurück. Es ist brutal heiß, weit über dreißig Grad im Schatten, in der Sonne locker das Doppelte. Alle haben heute zu kämpfen, selbst der sonst so flotte Rüdiger. Gebetsmühlenartig ermahne ich immer wieder Ywi kleine, weniger anstrengende Schritte zu machen. Und langsam zu laufen. Es zahlt sich aus, wir sind mit die ersten, die oben ankommen. Dieser anstrengende Aufstieg wird uns als eine große Hitzeschlacht in Erinnerung bleiben, wir haben gut gelitten. Als Entschädigung sehen wir beim Abstieg zur Pian de Fontana Hütte haufenweise Murmeltiere. Es sind wirklich viele. Es ist verrückt. Diese Tiere sind sonst so scheu, hier aber nicht. Wir legen uns mit Ywi fest, deren Trägheit muss an der vielen Pizza und Pasta liegen. Die Hütte, die wir dann erreichen ist schon urig, aber deren Wirt noch viel mehr. Am meisten bin ich von seinem Bart begeistert. Leider muss Rüdiger weiter laufen, er bekommt keinen Schlafplatz mehr, alles ist voll. Anders sieht es bei Wilhelm und Dirk aus, als sie eine ganze Weile später ankommen. Auch sie haben nicht reserviert, aber man sieht es Wilhelm an, er kann keinen einzigen Schritt mehr laufen am heutigen Tag und sie beide bekommen einen Platz im Notlager. Wir freuen uns natürlich für sie, gemeinsam verbringen wir einen wunderschönen Abend und freuen uns schon riesig auf die Kletterei morgen. Unser Schlaflager ist eine kleine Scheune mit einem Dachboden. Stehen kann ich nur unter dem First, im Bett liegend haben wir gerade dreißig Zentimeter Kopfhöhe. Das alles hindert uns am direkten Einschlafen.





Sonntag, 28. August. Tag 23.



Für uns steht heute der Höhepunkt der Tour, die Überschreitung der Schiara an. Obwohl wir vor lauter Aufregung früh aufgestanden sind, lassen wir uns viel Zeit beim Frühstück. Da es die meiste Zeit im Klettersteig abwärts gehen wird, wollen wir wegen der Steinschlaggefahr eher am Ende laufen. Zuerst gilt es aber, gute sechshundert Höhenmeter aufzusteigen. Obwohl wir mit die letzten sind, die an der Hütte loslaufen, kommen wir als die ersten oben am Klettersteigeinstieg an. Unterwegs sahen wir Leute mit erheblichen Schwierigkeiten schon bei leichter Kletterei, zu warten bis sie über den Klettersteig drüber sind, macht für uns keinen Sinn. Ywi zieht ihren Klettergurt und Helm an, wir essen einen Apfel und dann geht es aber auch schon los. Erst gute hundert Meter hinauf, dann gute sechshundert Meter hinab. Jeder Meter ein Genuss. Meine Bedenken wegen des Klettergurts zerschlagen sich schnell, der Steig erweist sich als recht einfach. Aber auch sehr schön. Die Schiara ist eine irrsinnige Felslandschaft, wir können uns kaum satt sehen. Heute ist Sonntag, dementsprechend ist der Berg auch voll. Es sind wirklich viele Kletterer unterwegs. Kein Wunder bei dem Wetter. Hier kommt auch jeder auf seine Kosten. Neben den bekannten Klettersteigen gibt es unzählige Kletterrouten in jeglichen Schwierigkeitsgraden. Für Ywi ist es aber auch ein Wiedersehen, vor Jahren ist sie diesen Klettersteig schon mal gegangen. Immer wieder kommen die Erinnerungen und sie hat einiges zu erzählen. Nach einigen hundert Metern Abstieg wird es sehr deutlich, warum die Schiara als einer der wildesten Gipfel der Dolomiten zählt. Der Blick zum Gipfel verschlägt uns komplett die Sprache. Wenn wir es nicht besser wüssten, würden wir sagen, von da oben kann man nicht absteigen. Fast überall endlose, senkrechte, glatte Wände. Der absolute Wahnsinn.  Direkt nach dem Klettersteig machen wir eine lange Pause, während der wir etwas essen und dann aber einfach nur wortlos die Wand anstarren. Als wir an der Hütte ankommen, kennt sich Ywi bestens aus, auch hier hat sie vor Jahren schon mal geschlafen. Sie zeigt mir die Toilette draußen, in der sie sich damals ausgesperrt hatte und lange warten musste, bis sie jemand fand. Diese lustige Geschichte wird natürlich gerne erzählt. Nach und nach kommen auch die anderen an. Mich treibt etwas die Unruhe, ich hab immer noch die etwas unsicheren Leute von heute Morgen vor Augen. Bewusst trinken wir noch keinen Alkohol. Aber kurz nach halb sieben kommen auch diese vom Berg runter und alle entspannen sich sichtlich. Jeder hat was anderes zu erzählen, alle sind aufgeregt. Außerdem ist es voraussichtlich der letzte gemeinsame Abend, ab sofort schlafen wir nicht mehr auf Hütten, sondern verteilt auf die vielen Herbergen der verschiedenen Orte bis Venedig. Es gilt Abschied zu nehmen. Uns allen fehlt Rüdiger, dem der Klettersteig definitiv zu schwierig war und der eine andere Route mit einer anderen Schlafstätte wählte. Es ist ein schöner und langer Abend, neben dem Wein trinken wir Enzianschnaps, den Wilhelm aussuchte. Nicht nur Ywi und ich schütteln sich danach, wir haben noch nie so einen bitteren Schnaps getrunken!





Montag, 29. August. Tag 24.



 Mit dem bitteren Geschmack des Schnapses des Vorabends auf der Zunge werde ich heute wach. Ich staune, wie gut ich geschlafen habe. Schließlich schliefen auf unserem Zimmer heute die größten Schnarchterroristen der Tour, Dirk und Wilhelm. Bei so manchem Frühstück hörten wir nur die Gruselgeschichten von den schlaflosen Nächten, sobald die beiden mit in einem Zimmer waren, das Vergnügen hatten wir bis zur letzten Nacht aber noch nie gehabt. Anscheinend aber funktionieren meine Ohrstöpsel in Verbindung mit dem Enzianschnaps hervorragend, ich schlief wie ein Kind. Auch Ywi konnte selbst ohne Stöpsel hervorragend schlafen. Wir frühstücken, verabschieden uns von den anderen und laufen los, heute wollen wir uns beeilen, in Belluno erwartet uns eine alte Bekannte Ywis, Rosanna, bei der wir auch übernachten werden. Über tausend Höhenmeter müssen wir absteigen. Die ersten zweieinhalb Stunden des Weges sind noch sehr schön, zum Teil laufen wir durch eine sehr sehenswerte Schlucht. Hier werden wir plötzlich zu unserer großen Freude von Rüdiger überrascht, der uns entgegen lief, um sich zu verabschieden. Keiner weiß, ob wir uns jemals wieder sehen werden. Der Abschied fällt sehr emotional aus, die gemeinsamen Erlebnisse der letzten Wochen lassen uns diesen irgendwie verrückten, aber doch so liebenswerten Menschen ans Herz wachsen. Danach müssen wir über zwei Stunden über zum Teil stark befahrene Straßen nach Belluno latschen. Es ist anstrengend und sogar richtig gefährlich, als Fußgänger ist man in Italien schlecht aufgehoben. Die Strapazen sind aber schnell vergessen, als wir bei Rosanna ankommen. Es gibt eine riesige Überraschung. Marta, Ywis Freundin aus der Kindheit kommt samt ihrem Verlobten Davide extra aus Pesaro am Meer, um uns zu sehen. Nach dem Essen gehen wir mit den beiden in die Stadt, während dessen Rosanna netterweise unsere gesamte Garderobe wäscht. Wir unterhalten uns mit Händen und Füßen, während die beiden uns die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen. Danach trinken wir gemütlich noch einige Biere in der Stadt, bevor wir dann zurück zu Rosanna laufen. Unterwegs kaufen wir noch einen Blumenstrauß für sie als Dankeschön für ihre Gastfreundschaft. Auf dem Rückweg zieht sich plötzlich der Himmel zu und es kommt ein heftiges Gewitter auf. Wir sind froh, nicht mehr oben in den Bergen zu sein. Das Spektakel ist aber atemberaubend. Immer wieder erhellen die Blitze den dunklen Himmel und lassen uns die Silhouetten der Berge sehen. Rosanna wartet schon mit dem Essen auf uns, dabei können wir kaum noch was essen. Marta und Davide sind Künstler, beide zeigen uns einige ihrer Werke. Wir trinken noch gemeinsam einiges an Bier, bevor es dann irgendwann am späten Abend ins Bett geht.





Dienstag, 30. August. Tag 25.



 Trotz des heftigen Gewitters gestern, werden wir von der Sonne geweckt. All zu viel Zeit haben wir heute nicht, uns erwartet eine lange Wanderung. Rosanna fährt uns nach einem phantastischen Frühstück mit leckerem hausgemachten Espresso aus der Stadt an den Fuß des Nevegals, wo wir uns von ihr herzlich verabschieden. Danach laufen wir los. Die letzten Höhenmeter der gesamten Tour stehen uns bevor. Der Aufstieg entpuppt sich schöner als erwartet, schon bald laufen wir über einen kleinen Trampelpfad nach oben und sind völlig alleine unterwegs. Einige Holzbrücken führen uns über eine spektakuläre Klamm, auch eine steile Wand können wir nur über einen Holzsteg queren. Schon recht früh erblicken wir den einzigartigen Gipfel des Col Visentins. Unzählige Antennen ragen dort in den Himmel, es ist ein völlig verrücktes Bild, geradezu gespenstisch. Es dauert aber noch eine ganze Weile, bis wir da oben ankommen. Aber als es so weit ist, erblicken wir nach fünfundzwanzig Tagen zum ersten Mal das Meer. Zwar gerade eben am Horizont, aber immerhin. Wir freuen uns sehr, sind aber auch gleichzeitig wehmütig, zum letzten Mal können wir unsere Blicke auf die, in der Ferne deutlich zu sehenden, Gipfel der Alpen werfen. Wir nehmen Abschied von ihnen und laufen auf der anderen Seite herunter. Es geht über eine Schotterstraße mit unendlich vielen Kehren hinunter. Während Ywi brav auf der Straße bleibt, kürze ich hin und wieder etwas ab, auch wenn es zwischenzeitlich brutal steil wird. Unsere Pause machen wir kurz nachdem wir die Straße verlassen und unser Weg über eine sanft abfallende Kammlinie führt. An der Riffugio Pian de le Femene entscheiden wir uns den Traumpfad zu verlassen und direkt nach Lago abzusteigen, ohne über die Straße laufen zu müssen. Das geht gründlich schief. Während die Garminkarte in den Alpen noch halbwegs verlässlich war, lässt sie uns jetzt gänzlich im Stich. Eingezeichnete Wege gibt es nicht mehr oder aber die enden immer an irgendwelchen Privatbesitzen vor verschlossenen Toren. Nach gut zwei Stunden Wegsuche müssen wir aufgeben. Wir laufen zurück zum Rifugio und nehmen doch die Straße herunter nach Tarzo. Unterwegs bleibt ein Italiener stehen und nimmt uns mit. Er fährt zwar nicht nach Lago, aber immerhin kommen wir so bis nach Tarzo, von wo wir dann in knapp einer Stunde über die bekannte Prosecco-Straße auch unsere Unterkunft erreichen. Bei der Wahl dieser Schlafstätte übertraf sich Ywi selbst, es ist eine Art Museum, wo wir einen der historischen Zimmer belegen, übrigens ist es passender Weise das venezianische Zimmer. Wir decken uns in dem nah gelegenen Laden mit frischem Brot, Wurst, Käse und Wein ein und lassen uns auf der Terrasse vor unserer Unterkunft nieder. Alsbald gesellen sich die beiden Besitzer der Herberge, Donatella und Germano zu uns. Wir essen und trinken gemeinsam in äußerst herzlicher Atmosphäre bis spät in den Abend. Schon bald holt Germano eine leckere Flasche Prosecco, eine hiesige Spezialität und im Anschluss auch noch eine Flasche Grappa. Wiedermal können wir uns nur mit Händen und Füßen unterhalten, es macht aber nichts. Auch dieser Abend wird uns lange in Erinnerung bleiben!





Mittwoch, 31. August. Tag 26.



Als ich wach werde, wundere ich mich, wie fit ich eigentlich nach dem gestrigen Abend mit dem vielen Alkohol bin. Ist auch gut so, uns erwartet ein sensationelles Frühstück. Kein Brot, keine Brötchen, nur Kuchen, Kekse und sonstiges Süßes, dazu Espresso. Als wir loslaufen ist mir schlecht. Wir laufen am Anfang noch über einige Weinberge, schnell aber geht es hauptsächlich über die Straße. Wir laufen durch einige Ortschaften, die allerdings wenig Sehenswertes zu bieten haben. Wir wundern uns schon über die Wegführung in dem Wanderführer, es gibt nämlich schönere Wege, die uns hin und wieder zu finden gelingt. Immer wieder können wir von den zahlreichen Weinreben Trauben pflücken und die dann unterwegs essen. Allerdings ist dieses Jahr kein gutes für die Winzer, die Trauben sind mickrig und nicht lecker. Der Ort, in dem unser Hotel liegt, ist genau so trostlos wie weite Teile des heutigen Weges. Wir lassen unsere Sachen im Zimmer und suchen eine Pizzeria auf, wo wir den Abend verbringen. Als wir so gegen dreiundzwanzig Uhr zurück ins Hotel laufen, passieren wir eine Eisdiele, die um diese Uhrzeit noch auf hat. Es ist offensichtlich typisch in Italien. Für uns ist aber nicht, wir bestellen das wahrscheinlich späteste Eis unseres Lebens. Da es noch warm ist, setzen wir uns am Straßenrand hin und genießen das Eis und den lauen Sommerabend.





Donnerstag, 1. September. Tag 27.



Schon am Start der heutigen Etappe erwartet uns die erste Hürde. Wir müssen über eine stark befahrene Brücke über den Piave laufen. Wir laufen nur wenige Zentimeter an den Autos vorbei und sind froh, als wir auf der anderen Seite ankommen. Jetzt geht es entlang des Ufers weiter. Das Flussbett ist an dieser Stelle einige hundert Meter breit, allerdings fließt der Piave zur jetzigen Jahreszeit in einer wenige Meter breiten Ader. Immer wieder müssen wir kleine noch nicht ganz ausgetrocknete Tümpel umrunden. An einigen, die mittlerweile nur noch knapp halben Meter breit sind, sammeln Leute ganz kleine Fische, die in diesen natürlichen Fallen gefangen sind. Es müssen Sardellen sein, aber sicher sind wir uns nicht. Wir queren einen am Wasser liegendes Kieswerk, Es erspart uns einige hundert Meter Weg, dafür müssen wir einen hohen Zaun überwinden. Kurz danach müssen wir wieder entlang einer Straße laufen. Während einer Pause in einem der Orte unterwegs kaufen wir uns eine halbe Wassermelone und müssen richtig kämpfen sie aufzuessen. Zum Glück trafen wir kurz davor auf Johannes, auch einen Venediggeher, der uns dabei hilft. Auf die Straße haben wir keine Lust mehr, also entscheiden wir uns weiter entlang des Piaves zu laufen. Am Anfang klappt es noch recht gut, allerdings mit jedem Meter wird das Durchkommen schwieriger bis wir schließlich an einer Stelle ankommen, wo es um uns herum nur Wasser gibt. Wir müssen den ganzen Weg zurücklaufen. Als wir endlich die Straße erreichen, sind wir richtig bedient. Gute zwei Stunden und sechs Kilometer extra hat uns die Aktion eingebracht. Als wir dann endlich unser Hotel erreichen, sind wir ganz schön fertig. Gegenüber gibt es einen kleinen Laden, dort finden wir zu unserer großen Freude auch gekühltes Bier. Im Innenhof des Hotels finden wir ein schattiges Plätzchen, wo wir uns von den Strapazen erholen. Eigentlich ist es weniger ein Hotel, als ein Restaurant mit einigen Zimmern, die vermietet werden. Das beschert uns eine phantastische Pizza und leckeren Wein zum Abendbrot. Wir sind die einzigen zwei Wanderer hier.





Freitag, 2. September. Tag 28.



 Mit einem sehr guten Frühstück fängt der heutige Tag richtig gut an. Danach laufen wir zwar fast die ganze Zeit über Straßen weiter, zum Glück sind sie aber meistens wenig befahren. Heute ist es sehr, sehr heiß und das Laufen fällt uns schwer. Wir haben annähernd vierzig Grad im Schatten und weit über dreißig Kilometer zu laufen. Es gibt auch wenig Interessantes zu sehen unterwegs. Als wir durch Musile di Piave, eine schon etwas größere Ortschaft, laufen, verpassen wir es irgendwie, uns mit Proviant einzudecken. Diese Tatsache beschert uns einige Kilometer später eine Rast mit trockenen Keksen und lauwarmem Wasser aus der Trinkblase. Das Ganze auch noch am Straßenrand und in der Sonne, wir fanden einfach keinen Schatten. Als wir an unsere luxuriöse Unterkunft in Jesolo ankommen, sind wir richtig froh. Allerdings gibt es hier ein Problem, wir werden erst morgen erwartet. Es dauert etwas bis es geklärt wird, zum Glück hat Ywi die Buchungsbestätigung parat und wir bekommen am Ende doch ein Zimmer. Auch hier handelt es sich eher um ein Restaurant mit einigen Zimmern. Allerdings wunderschön gelegen an einer archäologischen Grabungsstätte, sehr nobel eingerichtet. Leider sind auch die Preise der Speisen sehr nobel, wir beschließen uns in der Stadt mit Essen und Wein einzudecken und direkt am Haus in einem wunderschönen Garten es uns einzuverleiben. Es ist schon lustig. Während wir den mitgebrachten Wein aus der Flasche trinken, frisches Brot, Wurst, Käse genießen, kommen die ersten Gäste zum Abendessen. Eine dicke Karosse nach der anderen. Wir müssen uns die Augen reiben, wo sind wir hier gelandet? Die Frauen tragen alle Abendkleider, die Männer Anzüge. Die Situation hat schon etwas Lustiges an sich. Allerdings lässt man uns gewähren, wir werden auch nicht von dem Personal behelligt. Dafür um so mehr von den Mücken, die uns tatsächlich irgendwann zwingen, unser Zimmer aufzusuchen, um dort den restlichen Wein zu leeren. 






Samstag, 3. September. Tag 29.



Ausgerechnet heute am letzten Tag unserer Tour verschlafen wir und stehen spät auf. Gegen neun Uhr erscheinen wir zum Frühstück, das passend zu diesem noblen Ort seinesgleichen sucht. Nach sechshundert Kilometern werden wir in gut drei Stunden die Adriaküste erreichen. Es kribbelt schon, wir können es kaum erwarten. Die ersten Kilometer geht es auf einem Damm entlang an dem Fluss Sile, den wir über die große Brücke Cavallino irgendwann queren. Von weitem sehen wir auf dieser Brücke zwei Wanderer und wir fragen uns, ob es sich um Bekannte handelt. Nach dieser Brücke ist es nicht mehr weit. Endlich, nach einer Biegung der Straße, erblicken wir das heiß ersehnte Meer. Wir laufen hin und sobald wir den Strand erreichen, ziehen wir uns die Schuhe aus. Nicht weit von uns sehen wir die beiden Wanderer von der Brücke vorhin, die, wie es sich schnell herausstellt, ebenfalls von München aus die Alpen überquert haben. Es sind nette, junge Leute aus Stuttgart. Gemeinsam mit ihnen betreten wir auch das Meer. Wir sind glücklich. Niemals wird man dieses Gefühl beschreiben können. Glück, Stolz, Wehmut, Freude, alles mischt sich zu diesem undefinierbaren Gefühl zusammen. Lange laufen wir barfuß durch das Wasser, es ist herrlich. Natürlich ziehen wir die Blicke der Strandtouristen auf uns, vier Leute mit großen Rucksäcken, nackten Füßen und dicken Wanderschuhen in der Hand sind hier offensichtlich nicht alltäglich. Würde die Zeit nicht drängeln, verlassen wir ihn nach einigen Kilometern. Über würden wir weiter am Strand laufen, so die Straße erreichen wir schnell den kleinen Hafen Punta Sabbione, dabei laufen wir an zig verschiedenen Campingplätzen vorbei. So viele an einem Platz haben wir noch nie gesehen. Die Fahrt mit dem kleinen Boot nach Venedig dauert nicht all zu lange und wir steigen direkt in der Nähe des Markusplatzes aus. Die Tage haben wir dort einen Treffpunkt mit Dirk und Wilhelm ausgemacht, also laufen wir als erstes dahin. Ywi kennt Venedig schon, ich war noch nie hier und bin dementsprechend völlig überwältigt. Ich hatte Angst vor den Menschenmassen in der hektischen Enge. Die Stadt ist tatsächlich voller Menschen, aber hektisch geht es hier nicht zu. Anders als in den anderen Weltmetropolen scheint hier alles etwas langsamer zu laufen. Auch die engen Gassen und Brücken vermitteln eher Geborgenheit als Angst. Als wir die beiden auf dem Markusplatz treffen, ist die Freude riesig. Jetzt wartet nur noch die letzte Pflicht unserer Reise, der Espresso im Café Florian, den wir auch direkt bestellen. Der Besuch des Cafés an sich ist schon ein großartiges Erlebnis, es ist aber auch der leckerste Espresso, den wir je getrunken haben. Danach schlendern wir noch gemeinsam durch die Stadt, nehmen Abschied und genießen die einzigartige Atmosphäre. Irgendwann suchen wir ein Restaurant auf, wo wir beim leckeren Essen und Wein den restlichen Abend verbringen. Jetzt ist es aber endgültig, schweren Herzens müssen wir aufbrechen, unser Zug fährt bald ab. Selten fiel es uns so schwer, wieder zurück nach Hause zu fahren. Dirk hat noch eine Flasche Wein gekauft, die wir vor dem Schlafengehen im Zug zum Abschied gemeinsam austrinken. Als wir uns hinlegen, können wir lange nicht zur Ruhe kommen. Die Bilder der letzten Wochen lassen uns nicht einschlafen. Erst spät in der Nacht lassen uns die monotonen Geräusche des Zuges in die Welt der Träume gleiten.  





Sonntag, 4. September. Tag 30, Rückreisetag.



Geweckt werden wir von einem Grenzpolizisten, der uns an der deutsch-österreichischen Grenze kontrolliert. Der Zug hat eine Verspätung. Als wir in München ankommen, bleibt uns keine Zeit für lange Abschiede von den anderen, noch nicht einmal, um einen Kaffee zu holen. Als  wir in den ICE nach Duisburg einsteigen, stehen Wilhelm und Dirk am Bahnsteig und winken uns zum Abschied zu. Ich bin gespannt, ob wir sie jemals wieder sehen werden. Es dauert noch eine Zeitlang, bis der Bistrowagen aufmacht, aber als es soweit ist, holen wir uns einen Kaffee und frühstücken gemütlich im Zug. Wir fühlen uns beide müde. Auf der ganzen Tour war die Müdigkeit nie ein Thema, im Gegenteil, wir staunten immer wieder, wie fit wir trotz keinem einzigen Ruhetag und der zum Teil enormen Anstrengungen die ganze Zeit waren. Jetzt kommt sie aber durch, die Müdigkeit. Der Körper holt sich alles wieder, es wird noch Tage dauern, bis wir uns erholen. Das gilt aber nur für den Körper, der Geist und vor allem die Seele sind voller Energie, die letzten Wochen haben uns nachhaltig verändert. Als wir in Duisburg und kurze Zeit später in Oberhausen ankommen, regnet es. Zu unserer großen Überraschung wartet am Bahnhof einer unserer Nachbarn auf uns. Wir sind gerührt. Noch mehr, als wir zuhause ankommen. Über der Tür hängt „Herzlich Willkommen“, Damian, unser Sohn, hat lecker gekocht und gemeinsam mit einigen Nachbarn eine spontane Willkommensparty vorbereitet. Uns stehen die Tränen in den Augen. Die Atmosphäre ist gelöst, wir müssen viel erzählen, dabei die letzten Wochen in so kurzer Zeit wiederzugeben ist gar nicht möglich. Dadurch geht der erste Abend zuhause so zu Ende, wie die vielen Abende in letzter Zeit, gemütlich unter Freunden. Aber wir wissen, dass es ab morgen anders wird. Wir müssen zurück in den Alltag, es wird am Ende noch Wochen dauern, bis es uns gelingt.